Evelyn's Gehör

Auszüge aus «Evelyn's hearing», verfasst von Evelyns Ehemann Greg Malcangi, redigiert von Evelyn Glennie


Der Begriff «Taubheit» wird generell schlecht verstanden. Zum Beispiel besteht die falsche Auffassung, dass gehörlose Menschen in einer Welt der Stille leben. Um die Wesensart der Gehörlosigkeit zu erkennen, muss man erst die des Hörens verstehen.

Hören ist grundsätzlich eine spezialisierte Form des Berührens und Fühlens. Ein Laut ist einfach vibrierende Luft, welche das Ohr aufnimmt und in elektrische Signale umwandelt, die dann vom Gehirn interpretiert werden. Nebst dem Gehörsinn tut dies auch der Gefühlssinn. Wenn ein schwerer Lastwagen an uns vorbei fährt, fühlen und hören wir die Vibration. Bei sehr niedriger Vibrationsfrequenz beginnt das Ohr leistungsunfähig zu werden und der Gefühlssinn übernimmt die Verarbeitung der Signale. Aus gewissen Gründen neigen wir dazu, zwischen «einen Laut hören» und «eine Vibration fühlen» einen Unterschied zu machen; in Wirklichkeit ist es dasselbe. Interessanterweise bestehen in den lateinischen Sprachen diese Unterschiede nicht: Sentire (ital.), resp. sentir (frz.) bedeutet «hören» und in der reflexiven Form «fühlen». Taubheit bedeutet also nicht, dass man nicht hören kann, es bedeutet vielmehr, dass etwas mit den Ohren nicht in Ordnung ist; sogar jemand, der total taub ist, kann immer noch Laute hören oder fühlen.

Stellt sich nun als Nächstes die Frage, weshalb wir die höheren Frequenzen nicht fühlen, wenn wir doch die niedrigen wahrnehmen können. Ich selbst glaube, dass wir dazu fähig sind, nur, wenn die Frequenz höher und unser Gehör dadurch leistungsfähiger wird, beginnt dieses den feineren Sinn des Fühlens von Vibrationen zu «betäuben». Evelyn verbrachte als Kind und Jugendliche viel Zeit damit, ihre Fähigkeit im Spüren von Vibrationen zu verfeinern; dazu legte sie, während ihr Lehrer auf der Pauke spielte, ihre Hände an die Wand des Zimmers und lernte so, die Tonhöhen zu unterscheiden, indem sie das «Wo-am-Körper-sie-den-Ton-spürte» mit dem perfekten Gehörsinn, den sie vor dem hochgradigen Hörverlust hatte, in Verbindung brachte. Die tieferen Laute fühlt sie hauptsächlich in ihren Beinen und Füssen und die höheren an einzelnen Stellen des Gesichts, des Nackens und der Brust.

Nebst dem Hören von Lauten und dem Fühlen von Vibrationen ist auch das Sehen von Bedeutung. Wir können Dinge in Bewegung und vibrieren sehen. Wenn Evelyn eine Trommel oder ein Becken vibrieren sieht - oder auch die sich bewegenden Blätter eines Baumes, erzeugt ihr Gehirn den entsprechenden Ton dazu. Die verschiedenen Vorgänge, die das Hören von Lauten mit sich bringt, sind sehr komplex; sie spielen sich unbewusst ab. Wir bringen alle diese Vorgänge zusammen und nennen das Resultat einfach «Horchen». Dasselbe gilt für Evelyn; einige dieser Vorgänge mögen verschiedenn sein, doch alles, was sie tut, um Laute zu hören, ist «horchen». Sie hat nicht mehr oder weniger Ahnung wie sie hören kann als Sie oder ich unser eigenes Hörverstehen begreifen.

Viele meiner Erklärungsversuche leiten Richtung Philosophie. Wenn zwei normal hörende Personen einen Laut hören, wer kann sagen, ob beide das genau Gleiche hören? Jedermanns Gehör ist verschieden. Was gleich ist, ist das Lautbild, das sich aufgrund eines Klangs in unseren Köpfen bildet. Es wird dem Laut entsprechend in eine gegen aussen für alle normal Hörenden identische Bedeutung interpretiert und zugeordnet.

Evelyn beherrscht gewisse Dinge des Hörens besser als Normalhörende, obwohl sie auf das Lippenlesen angewiesen ist, um Gesprochenes zu verstehen. Ihr akustisches Bewusstsein während eines Konzertes ist jedoch hervorragend; Akusik bringt sie manchmal mit der «Dicke» der Luft in Verbindung.

Als gehörbehinderte Musikerin und normal lebender Mensch ist Evelyn immer wieder gefordert, Lösungen für anstehende Schwierigkeiten zu finden; so telefonieren wir beispielsweise durch Schlagen eines Schreibzeuges auf den Hörer; Evelyn hört dies als Knacken. Die Bedeutung der übermittelten Wörter hängt von der Anzahl der Schläge und vom Rhythmus ab.