Tierwelt Nepals - nach Thomas Hale

Aber nicht nur mit Technik und Kultur kann man Abenteuer erleben in Nepal; auch die Tierwelt ist nicht zu verachten. Das Land wimmelt von Tieren jeder Art und Größe, von winzigen Insekten in den merkwürdigsten Formen und Farben bis hin zu Bären, Leoparden und menschenfressenden Tigern. Ein Zeitungsartikel wußte kürzlich von einem Tiger zu berichten, der ein neunjähriges Mädchen aus den Armen seiner Mutter gerissen und anschließend vor ihren Augen verzehrt hatte. Ganz in der Nähe von Kathmandu übrigens, wie es beruhigend hieß.
Ja, was wäre das Leben in Nepal ohne die einheimische Fauna?
Man tut gut daran, sich zeitig an sie zu gewöhnen, denn ausweichen kann man ihr nicht; sie ist überall: neben, vor, hinter, über, unter und um einen herum und manchmal sogar buchstäblich drinnen. Tiere im Garten, in der Küche, im Essen, in den Schränken, im Badezimmer, im Bett. Man könnte fast sagen, daß sich die Herrschaft des Menschen über den Rest der Natur noch nicht bis in die nepalischen Berge herumgesprochen hat.
Der ohne Zweifel gefährlichste Teil der Tierwelt in Nepal sind die Myriaden von Bakterien und Protozoen (einzellige Parasiten), die Trinkwasser und Nahrung verseuchen, Ruhr- und Typhusepidemien verursachen und auch für die beiden großen Geißeln Tuberkulose und Lepra verantwortlich sind, die Zehntausende von Nepalen quälen und ganze Familien und Dörfer treffen können. Solche und andere Infektionskrankheiten geben den Ärzten in diesem Land mit Abstand am meisten zu tun.
Aber lassen wir Bakterien und Einzeller; wie schädlich sie auch sein mögen, man kann sie wenigstens nicht sehen. Und die sichtbaren Tiere sind es, die uns vielleicht nicht um die Gesundheit, dafür aber um den Verstand bringen können.
Was würden Sie zum Beispiel machen, wenn Sie Zeuge würden, wie ein tausend Mann starker Trupp großer Ameisen über den , Fußboden Ihres Wohnzimmers marschiert? Erklären Sie ihnen mit Besen, Pantoffeln, kochendem Wasser und Insektenpulver den Krieg? Versuchen Sie es besser nicht. Neunzig Prozent des Feindes werden den Angriff überleben und sich über den ganzen Rest des Hauses verstreuen, und die gefallenen Krieger werden eine klebrige schwarze Masse bilden, die einen größeren Putzeinsatz verlangt. Nein, tun Sie besser - nichts. In zwei Minuten wird die Armee Ihr Haus durchquert und ohne Feindseligkeiten wieder verlassen haben - ausgenommen ein paar Dutzend Disziplinlose, die unerlaubt aus der Kolonne ausgebrochen sind und jetzt im Zuckertopf festsitzen. Oder glauben Sie, daß man Ameisen schneller tottrampeln kann als sie sich vermehren? Glauben Sie es besser nicht.
Oder nehmen wir Fliegen. Natürlich versuchen wir, sie uns vom Leib zu halten, und haben zu diesem Zweck unsere Fenster mit Fliegennetzen versehen. Aber unser Haus hat nicht nur Fenster, sondern auch Ritzen - nämlich unter dem Wellblechdach und um die Fensterrahmen herum, wo die Mauern nie ganz dicht sind.
Was tun wir also? Magengeschwüre bekommen? Nein, wir sind dankbar - dankbar dafür, daß so eine Fliege nur 24 Stunden lang lebt. Ein kluger Mann hat einmal ausgerechnet, daß dann, wenn sie doppelt so lang lebten, die gesamte Erdoberfläche innerhalb eines Jahres zehn Zentimeter tief unter Fliegen begraben wäre.
Ich bin geneigt, diese Rechnung zu glauben. Wenn wir nur immer wüßten, wie gut wir es haben...
Das anhänglichste Tier in Nepal ist der Blutegel. In der Trokkenzeit vergräbt er sich im Boden, in der Regenzeit ernährt und vermehrt er sich. Auf Blättern und Grashalmen liegt er geduldig auf der Lauer, und wenn man vorbeikommt, schlüpft er einszweidrei auf den Schuh, durch das Schnürloch, hinein in den Strumpf und voller Wonne auf die Haut. Spürt man den Juckreiz und sieht man das Blut durch die Socken sickern, hat er seine Mahlzeit in der Regel bereits beendet und das Lokal, ohne zu bezahlen, verlassen. Der Fuß wird noch einige Tage lang jucken - sofern er sich nicht entzündet, in welchem Fall er aufhört zu jucken und anfängt zu schmerzen.
Anfangs haben wir uns einen Sport daraus gemacht, zu zählen, wie viele Blutegelbisse man auf dem zwanzig Minuten langen Fußweg von dem eigentlichen Dorf Amp Pipal, wo einige unserer Kollegen wohnten, zum Krankenhaus bekommen konnte. Der meines Wissens bis heute gültige Rekord war 34.



Nepal ist zu Recht berühmt für seine reiche und überaus schöne Vogelwelt. Aber kaum jemand erwähnt seinen ungeheuren Reichtum an Insekten, darunter große Schmetterlinge in allen erdenklichen Farben und Mustern: dunkel glühend und hell schillernd, mit goldenen Punkten und roten Streifen, blauen Flecken und gelben Rändern. Die einen sind elegant, die anderen bizarr, die einen duften, die anderen stinken. Man wundert sich, daß es Nationaltiere gibt und sogar Nationalbäume, aber keine Nationalinsekten; was uns nicht davon abzuhalten braucht, auch hier Gottes Schöpfungswunder zu bestaunen. Selbst die Spinnen sind in Nepal mit bunten Streifen und Punkten verziert. Sie halten sich auch gern in der Nähe des Menschen auf. Manche haben unter ihrem pflaumengroßen Hinterleib Eiersäcke, die man besser unbeschädigt läßt, wenn man nicht zweihundert Spinnenbabies auf der Gardine herumkrabbeln haben will.
Cynthia mag keine Spinnen, und immer wieder drückt sie mir die Fliegenklatsche in die Hand, um wieder ein Exemplar aus ihrem Schuh oder der Küchenspüle oder der Toilette fachmännisch zu entfernen. Ich selbst habe ein relativ ungetrübtes Verhältnis zu Spinnen - bis auf das eine Mal, als ich in meiner Kaffeetasse eine ertrunkene Spinne entdeckte. Ich hatte den Kaffee schon getrunken; es war früh am Morgen, und in dem trüben Kerzenlicht hatte ich die Spinne für einen unaufgelösten Klumpen Kaffeepulver gehalten. Sicher kennen auch Sie die Theorie von den drei Entwicklungsstufen des Missionars (oder Lebenskünstlers), der eine Fliege in seiner Kaffeetasse entdeckt. Stufe eins: Er schüttet den Kaffee aus und besorgt sich einen neuen. Stufe zwei: Er fischt die Fliege heraus und trinkt den Kaffee. Stufe drei: Er trinkt die Fliege mit. Ich weiß nicht, ob die Theorie auch für Spinnen gilt. Vielleicht sind Spinnen auch die vierte Stufe; in diesem Fall habe ich die vierte Stufe noch nicht erreicht.
Man könnte eine ganze Abhandlung schreiben über die Fauna Nepals und ihre Wirkungen auf den Menschen. Allein den Reptilien müßte man mehrere Kapitel widmen; wer hat noch keine Abenteuer mit Schlangen erlebt? Und dann erst die Nagetiere.
Man könnte von Ratten berichten, die die taub gewordenen Finger von Leprakranken abnagen oder die zwanzig Prozent (und in anderen Ländern noch viel mehr!) der Nahrungsmittel einern Familie auffressen. Auf unserem Dachboden haust eine ganze Rattenkolonie, die uns mit nächtlichen Wettkämpfen in Laufen, Weitsprung und Bodenturnen unterhält. Spähtrupps untersuchen die Küche, die Speisekammer und das Badezimmer. Und wenn eine Ratte sich mit einem ihrer Körperteile in einer Falle verfängt, ist uns ein stundenlanges Klopfkonzert über der Sperrholzdecke unseres Schlafzimmers sicher; so lange dauert es, bis das Tier sich totgezappelt hat. Natürlich kann man statt Fallen auch Gift nehmen, aber das bedeutet, daß die Übeltäter in irgendeiner unzugänglichen Ecke verenden, worauf das ganze Haus tagelang nach verwesten Ratten stinkt. Die biologische Bekämpfung mit Katzen hat Vorteile, aber nach unseren Erfahrungen noch mehr Nachteile. Kurz und gut: Nach zwölf Jahren Nepal haben wir das Rattenproblem immer noch nicht lösen können.